Gedächtnisbuch trauert um Pjotr Stepanowitsch Kudin

Der ukrainische Widerstandskämpfer und KZ-Überlebende Pjotr Stepanowitsch Kudin ist am 16. September 2018 im Alter von 94 Jahren verstorben. Die Mitarbeiter des Gedächtnisbuch-Projekts trauern um einen guten Freund und Unterstützer. Kudin war mehrmals anlässlich der Befreiungsfeiern und zu Erinnerungsveranstaltungen des Gedächtnisbuchs in Dachau.

Pjotr Stepanowitsch Kudin am Münchner Flughafen (2010)

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Am 22. Juni 1941, als die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion überfiel, war Pjotr Kudin 16 Jahre alt. Am selben Tag wollte der Schüler in die Armee eintreten, um sein Land zu verteidigen, aber er wurde abgewiesen: zu jung.

Er sei ein ausgezeichneter Schüler, aber ein „schrecklicher Rabauke“ gewesen. Zu seinen frühesten Erinnerungen zählen die Zwangsenteignungen der Bauern und die große Hungersnot, der in der Ukraine Millionen zum Opfer fielen. Er hatte Nachbarn und Spielkameraden vor Hunger anschwellen sehen.

Als der „glühende Komsomolze“ (Mitglied des kommunistischen Jugendverbands Komsomol) ansehen musste, wie die Deutschen seine Heimatstadt Orechow überfielen, die Schulen schlossen und die Jugend zur Zwangsarbeit verpflichteten, wurde aus dem Rabauken ein Kämpfer. Er war Augenzeuge, als die Juden zu Massenerschießungen zusammengetrieben wurden: „Die Leute gingen zu ihrer Erschießung mit der Überzeugung, dass sie nach Palästina übersiedeln“. Zu seinem Freund sagte er: „Die Juden haben sie schon umgebracht, jetzt beginnen sie mit uns.“ Seit Wochen hatte er sich für seinen Verband, den Komsomol, bereitgehalten, vergeblich. Schließlich wollte er nicht mehr untätig zusehen: „Ich organisierte eine Untergrundgruppe aus jungen Leuten. Mittel für den Kampf hatten wir keine, Erfahrung auch nicht, Ideen hatten wir, sonst nichts. Trotzdem gaben wir Flugblätter heraus. Wir machten Gegenpropaganda, für die Jugend, sie sollten nicht freiwillig nach Deutschland fahren.“ Bis April 1943 konnten sie sich halten, dann flog die Gruppe auf und Kudin kam zunächst in das Gefängnis der Bezirkshauptstadt Zaporoschije. 1944 wurde er ins Konzentrationslager Dachau gebracht.

„Meine Nummer war 55 996.“.Pjotr Kudin verbrachte eineinhalb Jahre im KZ Dachau. Er musste mit ansehen, wie Menschen vor Hunger starben oder für Sabotage aufgehängt wurden. Er musste schwere Zwangsarbeit leisten, in einem Bombenräumkommando, in der Lagergärtnerei und in der Flugzeugfertigung der Messerschmitt AG im Außenlager Augsburg-Haunstetten. Im Frühjahr 1944 überlebte er dort nur durch Zufall einen Bombenangriff. Im April 1945 musste Kudin mit Tausenden anderen Häftlingen den so genannten „Todesmarsch“ in Richtung Alpen mitmachen.

Nach der Befreiung und Repatriierung durfte er nicht in seinem Heimatstadt zurückkehren. Wie viele andere Heimkehrer stand er für die Sowjetbehörden unter dem Verdacht, mit den Deutschen kollaboriert zu haben. Ohne Papiere wurde er als „Sonderumsiedler“ in eine Baubrigade nach Orsk im südlichen Ural geschickt. Er hatte Glück, durfte studieren, wurde Bauingenieur und gründete eine Familie. Erst 1956 kehrte er mit seiner Frau und drei Kindern nach Zaporoschije zurück. Als Repatriant und da seine Ehefrau deutschstämmig war, wurde er nicht in die Partei aufgenommen. Trotzdem war er im Beruf sehr erfolgreich und wurde leitender Ingenieur des Zaporoschijer Wohnungsbaubetriebes.

»Mein Sohn, werde Imker und du wirst 100 Jahre leben«. Diesen Rat seines Vaters setzte Pjotr Kudin 1988 in die Tat um. Fortan hielt er Bienen und verfolgte den Plan, 100 Jahre alt zu werden. Seit 1999 besuchte er Dachau mehrere Male zu den Befreiungsfeiern. Bereitwillig teilte er seine Erinnerungen mit der jungen Generation.  Sein Optimismus und seine Kraft schienen unerschöpflich, ebenso wie sein Erinnerungsvermögen. Das Interview, das er 2006 der Studentin Viktoria Naumenko für das Gedächtnisbuch gab, dauerte 10 Stunden! Detailreich und nie langweilig konnte er von den Erlebnissen während der Hungersnot, der Besatzungszeit, dem Widerstand und der Gefangenschaft erzählen. Noch im Mai 2018 ging es dem 94-jährigen Überlebenden des Konzentrationslagers Dachau gut.

Am 16. September 2018 ist Pjotr Kudin im Kreise seiner Angehörigen verstorben. Die Mitarbeiter des Gedächtnisbuch-Projekts verlieren nicht nur einen engagierten Mitstreiter, sondern auch einen warmherzigen Freund, dessen Schalk und Charme keine Grenzen kannte.

„Für mich sind das Projekt `Gedächtnisbuch´ und die Biographie-Ausstellung `Namen statt Nummern´ ein Zeichen der Ehrerbietung an die Überlebenden und die Verewigung der Erinnerung an die im Konzentrationslager Dachau Verstorbenen. Ruhet in Frieden!“, schrieb Pjotr Kudin am 1.12.2007.

Mehr zur Biographie: https://www.gedaechtnisbuch.org/gedaechtnisblaetter/?f=K&gb=1420

(19.9.2018; Foto: Berufsfachschule für Kinderpflege München; Text: Sabine Gerhardus)