Gedächtnisbuch Niederlande: Exkursion nach Haaren und Vught

Anouk van Zandbergen, Schülerin am Hyperion Lyzeum in Amsterdam, erstellt ein Gedächtnisblatt über die niederländische Widerstandskämpferin Carla Gastkemper. Nach den Sommerferien wird die 17-jährige Schülerin ein Interview mit der jetzt 94-Jährigen Carla führen. Als Carla 1944 wegen Spionage verhaftet wurde, war sie nur wenig älter als Anouk heute: 19. Im Rahmen der Recherchearbeit besuchte Anouk das ehemalige SD-Gefängnis Haaren und die KZ-Gedenkstätte Vught. Anouk berichtet darüber.

Im Gespräch: Anouk und Henk van Helvert, ehrenamtlicher Mitarbeiter der Gedenkstätte Haaren

Carla wurde zur gleichen Zeit wie ihr Freund Carel Bos in Amsterdam verhaftet. Beide wurden sofort nach Haaren ins Polizei- und Untersuchungsgefängnis gebracht. Mein Besuch im damaligen Gefängnis hat mir eine viel bessere Vorstellung davon gegeben, wie es für Carla gewesen sein muss. Nach 75 Jahren in derselben Zelle zu sein, in der sie gelitten und geschlafen hat und auf dem gleichen Flur zu laufen, wie sie damals, war eine wirklich besondere Erfahrung. Das Gebäude ist riesig und hat mehrere Funktionen gehabt. Bevor es in ein Gefängnis umgewandelt wurde, war es ein Priesterseminar. Nach dem Krieg kehrten die Studenten zurück und später wurde es ein Heim für geistig Behinderte. Der Ort hat unterschiedliche Bedeutungen gehabt, für verschiedene Menschen. Carla hat bestimmt ganz andere Erinnerungen daran als jemand, der hier zum Priester ausgebildet wurde. Jetzt ist das Gebäude leer. Dass hier insgesamt ungefähr 4100 Menschen eingesperrt waren, ist kaum vorzustellbar.

Haaren: der Innenhof für den Freigang der Gefangenen

Nach dem Gefängnis in Haaren haben wir die KZ-Gedenkstätte Vught besucht. Vom SD-Gefängnis aus sind Carla und Carel in dieses KZ verschleppt worden. Am nächsten Tag, dem 5. September 1944, wurde Carel hingerichtet. Nachdem wir das Lager besucht hatten, fuhren wir zur nahegelegenen Hinrichtungsstätte. Die grüne Umgebung und das sonnige Wetter erweckten den Eindruck eines gelassenen Ortes, obwohl hier vor nicht allzu langer Zeit Schreckliches passiert ist. Das verursachte bei  mir ein sehr zwiespältiges Gefühl. Als wir zum Namendenkmal auf der Hinrichtungsstätte kamen, las mein Begleiter Jos Sinnema aus den Memoiren eines Mit-Häftlings von Carla vor. Sie schrieb, dass sie gedacht haben, sie würden bald befreit werden, und dass sie die Schüsse auf der Hinrichtungsstätte von ihrer Baracke aus hören konnten. Während ich dastand und zuhörte, versuchte ich mich einzufühlen. Ich fragte mich, ob Carla die Schüsse auch gehört hat, und ob sie sich gefragt hat, für wen sie bestimmt waren. 

Namendenkmal auf der damaligen Hinrichtungsstätte

1995 wurde das Namendenkmal von Unbekannten schwer beschädigt. Darauf hängte eine unbekannte Person als Protest ein Gedicht am Zaun der ehemaligen Hinrichtungsstätte auf. Es enthält unter anderem die Zeile: „Solche Namen kann man nie auslöschen! Sie sind in zahllose Menschenseelen eingraviert.“ Ich dachte daran, wie bei Carla die Erinnerung an ihrem Freund in der Erinnerung eingraviert ist.

Der Tag war sehr interessant, aber auch heftig: Weil die Orte jetzt Bedeutung für mich bekommen haben, aber auch, weil ich mich auf die Lebensgeschichte einer einzelnen Person konzentriere. Ich habe Carla noch nicht kennengelernt, habe aber schon vieles über sie gelernt. Das hat den Besuch in Haaren und der KZ-Gedenkstätte Vught noch eindrucksvoller gemacht als ohnehin schon.

(10.7.2019; Text: Anouk van Zandbergen)