Für eine verantwortungsvolle Erinnerungskultur

Mit mehr als 40000 Personen stellten polnische Gefangene die größte Häftlingsgruppe im KZ Dachau. An ihr Leiden erinnerte Kirchenrat Björn Mensing mit einer Gedenkfeier am 18. September 2022 in der Evangelischen Versöhnungskirche auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau anlässlich des 83. Jahrestags der Deportation der ersten polnischen Häftlinge in das KZ Dachau. Es sprachen unter anderem der Dachau-Überlebende Leszek Żukowski, die Schriftstellerin Maria Aniśkowicz sowie Bundesratspräsident Bodo Ramelow. Hedwig Bäuml, Lehrerin am Ignaz-Taschner-Gymnasium, stellte das deutsch-polnische Projekt des Gedächtnisbuchs vor.

Der 93-jährige Leszek Żukowski  berichtete über seine Leidenszeit in den deutschen Konzentrationslagern. Die deutschen Besatzer verhafteten den Jugendlichen am 2. September 1944 in Warschau. Żukowski war bei der Befreiung des KZ Dachau 16 Jahre alt, schwer krank und hatte zu diesem Zeitpunkt 8 Monate Konzentrationslagerhaft nur knapp überlebt. In Flossenbürg zwang man ihn zur Arbeit im Steinbruch und in den Flugzeugwerken der Messerschmitt AG. Am 20. April 1945 musste er sich mit weiteren 5000 Häftlingen auf einen Todesmarsch begeben, nur 1200 von ihnen erreichten das KZ Dachau am 27. April 1945, zwei Tage vor der Befreiung.

Żukowski  erlitt in den Konzentrationslagern eine Vielzahl unmenschlicher Grausamkeiten, alle mit dem Ziel der Auslöschung der Häftlinge. Ohne die Hilfe anderer polnischer Gefangener hätte er nicht überlebt. „Aufgrund meiner eigenen Erfahrung in den beiden Konzentrationslagern behaupte ich, dass unser Überleben allein von der göttlichen Vorsehung abhing.“ Mit diesen Worten schloss Leszek Żukowski seine Rede.

Nicht überlebt hat Jakub Sabasz, der Uroßvater der 1953 geborenen polnischen Schriftstellerin Maria Aniśkowicz. Sie schrieb über seinen Tod im KZ Dachau ein Gedicht, das bewegender Bestandteil der Gedenkfeier wurde. Für Sabasz wurde eine Kerze entzündet, ebenso für die Überlebenden des KZ Dachau Woldemar Gastpary, Adam Kozłowiecki und Mania Knobloch, die jeweils mit Kurzbiographien gewürdigt wurden. Zu denjenigen, die an die Schicksale der polnischen Verfolgten erinnerten, gehörte auch der Shoah-Überlebende und Vorsitzende der Lagergemeinschaft Dachu Ernst Grube.

Ramelow: Plädoyer für eine verantwortungsvolle Erinnerungskultur

Bodo Ramelow, Bundesratspräsident und thüringischer Ministerpräsident, ergriff das Wort, um eine Lanze für eine verantwortungsvolle Erinnerungskultur zu brechen. „Man spürt und weiß: Ein System, dass die Unmenschlichkeit zum Handlungsprinzip erhebt, das andere vernichten will und für ‚vernichtbar‘ hält, ist in der Lage, unaussprechliches Leid zu erschaffen.“ Vor diesem Wissen müsse man sich der eigenen Verantwortung stellen. „Polen war das erste Land, das von Deutschland überfallen wurde. 6 Millionen Polen wurden ermordet – ein Ausmaß an Vernichtungswut und -willen, das die Worte fehlen lässt.“

Eine Geschichtswende oder eine Revision dessen, was passiert ist, dürfe es nicht geben, genauso wenig wie ein Ausgrenzen oder Auseinanderdividieren der Opfer, so Ramelow. „Es gibt nicht ‚mehr jüdische‘ oder ‚mehr polnische‘ Opfer, sondern es gibt nur die Opfer, für die wir die Verantwortung übernehmen müssen. Deswegen stehen wir hier zusammen.“
 
Deutsch-polnisches Erinnerungsprojekt des Gedächtnisbuchs
 

Hedwig Bäuml, Geschichtslehrerin am Ignaz-Taschner-Gymnasium in Dachau, betreut im begonnenen Schuljahr  zum wiederholten Mal ein W-Seminar des Gedächtnisbuchs. Sie stellte das Projekt Gedächtnisbuch sowie das deutsch-polnische Erinnerungsprojekt vor. Die Schüler*innen ihres Seminars werden an der Studienreise nach Auschwitz im Oktober 2022 teilnehmen. Für die Biographien, die die Seminarteilnehmer*innen in den nächsten zwei Jahren erarbeiten werden, gilt wie auch für bisherige Gedächtnisblätter: „Da jede Biographie anders ist, wird uns ein sehr persönliches und individuelles Erinnerungsbild eines Menschen, der oft Unsägliches erleiden musste, gegeben.“

Die Texte der Gedenkfeier lassen sich auf der Website der Versöhnungskirche nachlesen:
https://www.versoehnungskirche-dachau.de/aktuelles-0
Die gesamte Gedenkfeier steht als Audiostream online:
https://youtu.be/_Ae59ypmz-4

(27.9.22; Irene Stuiber)