Ernst Sillem (14.7.1923 – 17.10.2020)
Der niederländische Dachau-Überlebende Ernst Sillem ist am 17.10.2020 gestorben. Die Schülerin Sydney Weith hat 2013/14 ein Gedächtnisblatt über ihn geschrieben. Daraus entwickelte sich eine Freundschaft, die bis heute Bestand gehabt hat. Zu Ernst Sillems Tod schreibt Sydney Weith:
English version below
Im September 2013 habe ich Ernst Sillem kennengelernt. In diesem Jahr machte ich zusammen mit einer Mitschülerin am Gedächtnisbuchprojekt ‘Namen statt Nummern’ mit. Wir waren nach Natzweiler gereist und hatten uns einer Gedenkfahrt mit ehemaligen niederländischen Häftlingen und ihren Angehörigen angeschlossen. Während dieser Reise hat Ernst seine erstaunliche Lebensgeschichte zum ersten Mal mit mir geteilt.
1941, als die Niederlande von den Deutschen besetzt waren, ist Ernst, damals 17 Jahre alt, in seine Schule eingebrochen. Aus Protest gegen die Besatzung schrieb er deutschfeindliche Parolen an die Wände. Kurz darauf versuchte er, zusammen mit seinem Freund Jaap van Mesdag in einem Kanu nach England zu fahren, um sich den alliierten Truppen anzuschließen. Unglücklicherweise wurden sie von der deutschen Kriegsmarine verhaftet. Ernst kam ins Polizeiliche Durchgangslager Amersfoort, dann nacheinander in die Konzentrationslager Vught, Natzweiler und Dachau. Sowohl Ernst als auch Jaap waren in Dachau, als die Amerikaner das Lager 1945 befreiten.
Man würde erwarten, jemand, der so viel leiden musste, würde verbittern. Ernsts Geist ist jedoch nie gebrochen worden. Er betrachtete die Zeit, die er in den Lagern verbringen musste, als eine Lehrzeit. Er war davon überzeugt, der wichtigste Grund für sein Überleben war, dass er seine Hoffnung behalten hat.
Nach unserer ersten Begegnung 2013 habe ich den Kontakt mit Ernst gehalten und und unsere Wege haben sich immer wieder gekreuzt. Was 2013 angefangen hat mit der Anfertigung eines Gedächtnisblatts für Namen statt Nummern, wurde sehr viel mehr. Ein Buch, eine Theateraufführung, eine Ausstellung im Widerstandsmuseum in Amsterdam und in der KZ-Gedenkstätte Dachau folgten. Diese Erfahrungen haben mir die Chance gegeben, ganz viele inspirierende Menschen zu treffen und inspirierende Orte zu besuchen. Aber am wichtigsten: Es entstand eine richtige Freundschaft zwischen Alt und Jung.
Ich war sehr traurig, als ich hörte, dass mein lieber Freund Ernst am 17. Oktober 2020 in Carpentras, Frankreich, gestorben ist. Im Alter von 97 Jahren ist ein außergewöhnliches Leben an sein Ende gekommen. Ich bin dankbar für die warmherzigen Begegnungen, die altmodischen, handgeschriebenen Briefe und die angenehmen Gespräche. Ich muss lächeln, wenn ich zurückdenke an den vielen faszinierenden Geschichten, die er mir erzählt hat, den Optimismus, mit dem er dem Leben entgegen getreten ist, und auch den Humor, der so charakteristisch für ihn war.
Namen statt Nummern hat die Kraft, Generationen miteinander zu verbinden. Ich werde unsere Freundschaft sehr vermissen.
Syndney Weith
English Version:
It was september 2013 when I first met Ernst Sillem. Together with a classmate I participated in the Namen statt Nummern project. We had travelled to Natzweiler to join a memorial trip for ex-prisoners of concentration camp Natzweiler and their relatives. It was during this trip to Natzweiler that Ernst first shared his amazing life story with me.
In the year 1941, during the German occupation of the Netherlands, 17-year old Ernst broke into his high school. In protest of the occupation he wrote anti-German slogans all over the walls of the school. Shortly thereafter and together with his best friend Jaap van Mesdag, Ernst attempted to sail to England in a canoe to join the military service. Unfortunately, they were captured by the Nazi German navy (Kriegsmarine). Ernst was eventually imprisoned in camp Amersfoort, followed by camp Vught, camp Natzweiler, and camp Dachau. Both Ernst and his best friend Jaap were imprisoned in Dachau when American soldiers liberated the camp in 1945.
You might expect someone to become bitter after going through so much suffering. However, it never broke Ernst’s spirit. He saw the war and the time he spent in the multiple camps as a learning experience. According to him the most important reason that he survived was that he always kept faith.
After our first encounter in 2013, I stayed in touch with Ernst and our paths kept crossing. What started with a biography for Namen statt Numern in 2013, grew to become so much more. A book, theater play, and exhibition in both the Resistance museum in Amsterdam and the KZ Dachau followed. These experiences gave me the opportunity to meet so many inspiring people and to visit many inspiring places; but most importantly: a true friendship arose between old and young.
It is with great sadness that I heard that my dear friend Ernst had passed away on October 17th in Carpentras, France. Having reached the age of 97, an extraordinary life has come to an end. I am grateful for seven years full of warm encounters, old-fashioned handwritten letters and enjoyable conversations. It makes me smile thinking about all the intriguing stories he shared with me, the optimism with which he faced life and the sense of humor that typified him.
Namen statt Nummern has the power of connecting generations. I will miss our friendship deeply.
Sydney Weith
(30.10.2020; Foto: Marga Tupang; Text: Sydney Weith)