Ein Vierteljahrhundert: 25. Jahrespräsentation des Gedächtnisbuchs
Wie jedes Jahr präsentierte das Gedächtnisbuch am 22. März die neuen Gedächtnisblätter. Zehn neue Biographien wurden der Öffentlichkeit vorgestellt. Verfasser*innen waren Schüler*innen des Ignaz-Taschner-Gymnasiums, eine Heidelberger Schülergruppe sowie Marine Charbonneau, Freiwillige im Projekt.
Das Gedächtnisbuch konnte dieses Jahr zum 25. Mal neue Biographien präsentieren. Diese Gedächtnisblätter werden in nächster Zeit auch hier auf der Website abrufbar sein.
Mehrere der vorgestellten Gedächtnisblätter bilden die Grundlage der neuen Ausstellung „Namen statt Nummern – KZ-Häftlinge in Auschwitz und Dachau“. Mit der Veranstaltung fand auch der Gegenbesuch der polnischen Projektpartner im Erasmus+-Projekt seinen Abschluss. Die neue deutsch-polnische Ausstellung wird mit der polnischen Delegation nach Oświęcim reisen und dort zu sehen sein.
Adam Kozłowiecki: Einsatz für die Würde und Freiheit aller Menschen
Der Schüler des Ignaz-Taschner-Gymnasiums, Marcel Gabor, hatte den polnischen Geistlichen Adam Kozłowiecki in den Mittelpunkt seiner biographischen Forschungen gestellt. Kozłowiecki wurde bereits im November 1939 verhaftet und überlebte die Lager Auschwitz und Dachau. Die Nachkriegszeit verbrachte er in Nordrhodesien/Sambia, ab 1955 als erster Bischof von Lusaka, ab 1959 als Erzbischof der Diözese, 1998 erfolgte die Ernennung zum Kardinal. Sein Einsatz für die Würde und Freiheit aller Menschen, für soziale Gerechtigkeit und die Wahrung der Menschenrechte beeindruckte Marcel Gabor sehr.
So zitierte der Referent, was Kozłowiecki 1972 bei einer Gedenkstunde in der KZ-Gedenkstätte Dachau gesagt hatte: „Wir müssen alles, aber auch alles tun, was in unserer Kraft liegt, um der Grausamkeit des Menschen gegen den Menschen ein Ende zu setzen, den Hass zwischen Bruder und Bruder auszurotten!“
Edgar Mannheimer: „Lieber einmal zuviel als einmal zu wenig geholfen“
Dass Edgar Mannheimer als Jude im tschechischen Ungarisch Brod überhaupt noch eine Ausbildung machen konnte, war keine Selbstverständlichkeit. Er lernte Schuster und sagte später, das habe ihm und seinen Bruder Max das Leben gerettet. Edgar Mannheimer erlitt Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau und schließlich die Dachauer Außenlager Karlsfeld und Mettenheim. Dort wurde er am 30. April 1945 von den Amerikanern befreit. In der Nachkriegszeit avancierte Mannheimer in der Schweiz zum erfolgreichen Antiquitätenhändler. Sein Lebensmotto war: „Lieber einmal zuviel als einmal zu wenig geholfen.“
Sophia Weiß resümierte ihre Erkenntnisse aus der intensiven Beschäftigung mit der Lebensgeschichte von Edgar Mannheimer: „Durch die Geschichte von Edgar Mannheimer können auch wir viel lernen und das ist vor allem die Dankbarkeit für unsere Familie und Freunde, die Edgar immer zeigte!“
Jean-René Lafond: Im Geisterzug nach Dachau
Das Buch, das Jean-Renè Lafond über seine Geschichte geschrieben hat, veranlasste Marine Charbonneau, dem Leben des Autors nachzuspüren. Der junge französische Widerstandskämpfer erlitt Folter und Haft unter entsetzlichen Bedingungen und wurde mit dem Geisterzug, dem Train Fantôme, in einer wochenlangen Fahrt in das KZ Dachau transportiert. Er war nach der Befreiung durch die Amerikaner so geschwächt, dass er erst einen Monat später in seine Heimat zurückkehren konnte.
Marine Charbonneau berichtet über ihre Recherchen: „Es war ein Glück für mich, die Familie zu treffen.“
Abram Grossman: Lebte nach extremen negativen Erfahrungen positiv weiter
Anna Scharl, Teilnehmerin am Seminar des Taschner-Gymnasiums, berichtete über das Leben des polnischen Webers Abram Grossman. Grossmann musste nach der Besetzung seines Heimatorts durch die Deutschen Zwangsarbeit bei der Deutschen Reichsbahn leisten und wurde schließlich 1943 nach Auschwitz deportiert und später dann in das KZ Warschau. Schließlich führte ihn ein grausamer Deportationsvorgang zunächst zu Fuß und dann in einem Güterwaggon nach Dachau und kurz darauf in das Außenlager Mühldorf. 1948 gelang die Emigration in die USA, wo er zunächst als Weber arbeitete, danach einen Imbiss betrieb.
Anna Scharl meinte: „Ich fand es sehr inspirierend zu erfahren, wie positiv Abram nach derartig negativen Erfahrungen weiterleben konnte. Dafür hat er – statt alles aus dieser Zeit zu verdrängen – seinen Arm mit seiner Auschwitz-Nummer nie versteckt, sondern z.B. seiner Enkelin vermittelt, dass es wichtig ist, sich daran zu erinnern, damit so etwas nie wieder passiert.“
Herta Mühlfelder: Sie starb mit gerade einmal 29 Jahren
Die Schülerin Sabrina Renner versuchte, mit ihrer Gedächtnisbuchbiographie „Herta Mühlfelder die Stimme wiederzugeben, die ihr vor 80 Jahren genommen wurde“.
Bis 1936 lebte die 1914 geborene Herta Friederike Mühlfelder größtenteils in Würzburg. 1933 machte sie dort Abitur und legte schließlich 1936 die Prüfung für Volksschullehrer an der Israelitischen Lehrerbildungsanstalt in Würzburg ab. Zunächst arbeitete Herta Mühlfelder in Fürth, schließlich aufgrund der zunehmend begrenzten Arbeitsmöglichkeiten als jüdische Lehrerin an verschiedenen Orten als Aushilfslehrerin. Ab November 1939 ließ sie sich in Berlin als Krankenschwester ausbilden. Schließlich erkrankte Herta Mühlfelder schwer und war bettlägrig. Im Sommer Sommer 1943 wurde sie nach Auschwitz deportiert. Sabrina Renner kam angesichts dieser Umstände zu dem Schluss, dass sich die Frage stellt, „ob Herta angesichts der qualvollen Fahrt lebend im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau angekommen ist oder bereits durch die schrecklichen Transportbedingungen ums Leben gekommen ist“. Zum Zeitpunkt ihrer Ermordung war Herta Mühlfelder 29 Jahre alt.
Arthur Godlewsky: Deutscher Soldat im Ersten Weltkrieg und jüdischer Lehrer
Ole Gerkens, Schüler am Taschnergymnasium, wunderte sich über sich selbst: „Die Arbeit an dem Gedächtnisblatt ist mir sehr nahegegangen. Ich hätte nie gedacht, dass mich etwas, was ich für die Schule mache, so berühren kann.“
Die von ihm verfasste Biographie erzählt die Lebensgeschichte von Arthur Godlewsky, der 1892 in Sulzbach in der Oberpfalz geboren wurde, 1913 das jüdische Lehrerseminar in Köln abschloss und dann den ganzen Ersten Weltkrieg an der Front miterlebte. Während der Weimarer Republik und der ersten Jahre der NS-Herrschaft arbeitete er an verschiedenen Orten als Lehrer. 1938 wurde er im Verlauf der Reichspogromnacht misshandelt und schließlich für etwa einen Monat im KZ Dachau inhaftiert. Nach seiner Freilassung waren unter anderem die Lager Gurs, Noé und Drancy Stationen auf seinem Lebensweg. Von Drancy aus wurde er zusammen mit seiner Frau nach Auschwitz deportiert und dort 1942 direkt nach der Ankunft in der Gaskammer ermordet.
Robert Savosnick: Mut und Durchhaltevermögen
Als Medizinstudent wurde der 27jährige Norweger jüdischer Konfession Robert Savosnick 1942 von den deutschen Besatzern nach Auschwitz deportiert. Weitere Konzentrationslager seiner Haftzeit waren Warschau, Dachau und das Dachauer Außenlager Allach. Trotz massivster gesundheitlicher Folgen der Haft gelang es Savosnick, 1948 sein Studium als Kinderarzt abzuschließen. Diesen Beruf übte er dann im norwegischen Trondheim aus. Über seine Haftzeit verfasste Savosnick ein Buch.
Die Hebertshausener Schüler Charlotte Werner meinte über ihre Arbeit am Gedächtnisblatt, „während meiner Recherchen habe ich immer wieder seinen Mut und sein Durchhaltevermögen bewundert“. Sie beendete ihr Referat mit folgenden Worten: „Ganz in Robert Savosnicks Namen möchte ich nun schließen, denn seine Mission war es, an den Holocaust zu erinnern, für all diejenigen Opfer, die ihr Leben in ihm verloren haben.“
Benjamin Goldfeld: Die Recherche wurde zum Familienprojekt
Die Urenkelin Lisa Ban forschte im W-Seminar des Taschner-Gymnasiums über Benjamin Goldfeld, ihre Mutter Michaela Ban trug dessen Biographie auf der Jahrespräsentation vor. Sie berichtet: „Während Lisas Recherchen hat meine Mutter, die Tochter von Benjamin Goldfeld, Kontakt zu ihrer Halbschwester und ihrem Cousin Shimon in den USA aufgenommen. Lisa hat sehr viele Informationen von Shimon erhalten und er wurde durch dieses Projekt ein Teil unserer Familie. Somit wurde dieses Projekt auch immer mehr zum Familienprojekt.“
Benjamin Goldfeld wurde 1916 in Ost-Oberschlesien geboren und arbeitete als Kunststicker und Kunststricker im elterlichen Betrieb. Er heiratete Ryfka Kugelfreser/Kugelmann, mit der er ein Kind bekam. Nach dieser Heirat arbeitete in der Schuhfabrik seines Schwiegervaters als Schäftemacher, bis die Fabrik 1939 beschlagnahmt wurde. Als Ghettobewohner musste Benjamin Goldfeld in dieser Fabrik dann Zwangsarbeit leisten. 1943 wurde er über das Durchgangslager Blechhammer zunächst nach Seibersdorf/Zebrzydowice deportiert, wo er in einem Chemiewerk und im Steinbruch arbeiten musste. Von dort kam er im April 1944 zurück nach Blechhammer, das zu diesem Zeitpunkt ein Außenlager von Auschwitz III war. Schließlich erlebte und überlebte er 1945 den Todesmarsch nach Großrosen und die Deportation nach Buchenwald, den Aufenthalt im Außenlager Berga/Elster von Buchenwald, den Einsatz beim Bau von unterirdischer Stollen in diesem Lager und danach den Todesmarsch nach Theresienstadt.
Nach seiner Befreiung wurde Goldfeld nach Dachau ins Lager gebracht und lebte später zeitweise im DP-Lager in der Rothschwaige in Karlsfeld. Hier lernte er Rosina Haberditzl kennen, mit der 1947 die gemeinsame Tochter Rosemarie bekam. Goldfeld baute in Dachau in der Frühlingsstraße eine Trikotagenfabrik auf. Mit seiner späteren Ehefrau Genioa Sulkovska wanderte er in die USA aus. Dort heiratete er 1953 nochmals und zwar Helen Novak. Benjamin Goldfeld starb 1982.
Michaela Ban berichtete bedauernd: „Leider konnten wir den Namen des ersten Kindes meines Großvaters bis heute nicht herausfinden.“
Jakob Bamberger: Sein Kampf ist noch nicht ausgeboxt
Die Heidelberger Gymnasiasten Noah Douglas, Cara Janke und Mia Purrucker widmeten ihr Gedächtnisblatt dem Sinto Jakob Bamberger. Die Biographie wurde in Kooperation mit dem Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma erstellt.
Jakob Bamberger gehörte zu den aktivsten und frühesten Teilnehmern, als sich in den 70er Jahren die Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma formierte. Die Referenten beeindruckte, dass eine der wichtigsten Aktionen dieser Bewegung 1980 gleich neben dem Veranstaltungsort stattgefunden hat, der Hungerstreik der Sinti und Roma in der Versöhnungskirche. Jakob Bamberger war unter ihnen. Die Schüler berichteten: „Zu dem Versuch bayerischer Behörden, den Hungerstreik zu verbieten, bemerkte er später: „Da hätten sich diese Kerle in Bayern tatsächlich getraut, mir nach allem, was ich durchgemacht hatte, zu verbieten jetzt freiwillig ins Lager zu gehen.““
Bamberger wurde 1913 in Königsberg in Ostpreußen geboren. Seit 1933 war er aktiver Boxer und 1936 gehörte er dem deutschen Olympiateam an. Nach der Verhaftung seines Vaters flüchtete er mit seiner Mutter und seinen Geschwistern in die Tschechoslowakei. Dies bewahrte ihn nicht vor der Deportation, zunächst nach Flossenbürg, dann in das Dachauer Außenlager Augsburg-Haunstetten, schließlich in das Stammlager Dachau. Hier wurde er für Meerwassertrinkversuche der SS missbraucht. Schließlich transportierte man ihn nach Buchenwald, wo er im April 1945 von den Amerikanern befreit wurde. Er starb 1989.
„Tief erschüttert hat uns, immer wieder feststellen zu müssen, wie sehr auch heute noch Angehörige der Minderheit unter Ausgrenzung und Diskriminierung leiden.“, erzählten die Schüler über ihre Erfahrungen bei der Recherche. Ihr Resümée: „Der Kampf von Jakob Bamberger gegen Rassismus und Antiziganismus ist folglich noch nicht zu Ende geboxt. Eines ist jedoch sicher: Er kann nur gewonnen werden, wenn wir ihn gemeinsam kämpfen.“
Ella Lingens: Sie zeigte Stärke und Entscheidungskraft in schwierigsten Situationen
Die Schülerin Simona Salvatore berichtete über das Leben der österreichischen Sozialdemokratin Ella Lingens.
Die Juristin und Ärztin Ella Lingens hatte zusammen mit ihrem Mann in Österreich nach dem Anschluss an das Deutsche Reich Juden unterstützt. Sie wurde 1943 verhaftet, nach Auschwitz deportiert und war dort als Häftlingsärztin tätig. 1944 brachte man sie in das KZ Dachau, nach wenigen Tagen dann in das Außenlager Agfa-Kamerawerke in München. Nach dem Streik der niederländischen Häftlinge in diesem Frauen-KZ befürchtete Ella Lingens, dass die SS ihr die Schuld an diesem Aufstand geben würde. Sie meldete sich krank und wurde ins Stammlager Dachau überstellt. Dort arbeitete sie über die Befreiung hinaus als Ärztin. In Wien bekleidete Ella Lingens in der Nachkriegszeit wichtige Ämter im Bundesministerium für soziale Verwaltung. Von Yad Vashem erhielt sie die Auszeichnung „Gerechte unter den Völkern“. Ella Lingens war eine der zentralen Zeuginnen im Frankfurter Auschwitz-Prozess.
Die Referentin Simona Salvatore hat besonders beeindruckt, dass die Biographie darstelle, „welche Stärke Ella zeigen musste, um zu überleben und mit welchen Situationen und Entscheidungen sie konfrontiert wurde. Für uns ist das heute undenkbar.“
Ein Grußwort und eine Musikgruppe aus Polen
Nicht nur in der Anwesenheit der polnischen Delegation zeigte sich die polnische Präsenz bei der Jahrespräsentation des Gedächtnisbuchs. Die polnische Musikgruppe ¿weroena?, bestehend aus Weronika Boińska, Marcin und Miłosz Boiński, aus Oświęcim begleitete die Veranstaltung musikalisch.
Und es lag ein Brief des polnischen Erasmus-Partners vor: Die Bildungsreferentin der Jugendbegegnungsstätte Auschwitz/Oświęcim Stanisława Piotrowska verlas ein Grußwort der Leiterin ihrer Einrichtung Joanna Klęczar-Déodat, die persönlich nicht anwesend sein konnte.
Statements der Veranstalter
Sabine Gerhardus, von Anfang an, also seit einem Vierteljahrhundert, Projektleiterin des Gedächtnisbuchs, konnte stolz berichten, dass in dieser Zeit über 250 Biographien von ehrenamtlichen Projektteilnehmern verfasst worden sind. Angesichts der politischen Situation hält sie Erinnerungsarbeit heute für nötiger denn je, dem Erstarken undemokratischer und rechtsextremer Strömungen müsse gekontert werden. „Nun ist es an uns allen, in aller Entschiedenheit zu widersprechen und dagegenzuhalten.“
Annerose Stanglmayr, Vertreterin des Trägerkreises und Geschäftsführerin des Dachauer Forums, begrüßte und verabschiedete die Anwesenden. Drei Gründe führte sie an, warum sie die Veranstaltung dieses Jahr für etwas ganz Besonders hält: Erstens sei das 25jährige Jubiläum des Gedächtnisbuchs ein ganz besonderes Datum, zweitens nehmen die polnischen Gäste als Teilnehmende des Projekts mit der Internationalen Jugendbegegnungsstätte Auschwitz/Oświęcim an der Veranstaltung teil und drittens zeige die Präsenz vieler Angehöriger von NS-Verfolgten und nicht zuletzt der beiden Schülergruppen aus Dachau und Heidelberg, was das Gedächtnisbuch ausmache.
Bildergalerie
(31.3.24; Bildergalerie: Marine Charbonneau; weitere Fotos und Text: Irene Stuiber)